Ubiquitäre Literatur: Und wo ist das Gedicht?
54Books veröffentlicht die Einleitung von Holger Schulzes Buch Ubiquitäre Literatur. Eine Partikelpoetik. Es erscheint am 30. April 2020 bei Matthes & Seitz.
Schulze zeichnet in ihr eine textuell übervolle Gegenwart nach, in der immer und überall gelesen wird. Die Literatur partikularisiert sich in dieser Gegenwart:
Die Konsistenz eines literarischen Werkes wird […] zum Ende des 20. Jahrhunderts literatur- und kunstgeschichtlich noch weiter abgebaut: Das Werk ist nicht mehr nur offen, unfertig oder in progress – schlichtweg jedes Partikel wird als werkhaft gelesen und in sich selbst als abgeschlossen geformt begriffen.
Ihre Ursprünge habe diese Poetik in den Literaturexperimenten der 60er und 70er Jahren. Heute ist sie alles andere als Experiment:
Was zunächst künstlerisch vorgeführt wurde, in vielstimmigen Gedichten und arrangierten Bewusstseinsströmen, in Collagebildern und Textmontagen, Hitparaden und Produktlisten, in Zeitungsklebe- und -lesearbeiten, in der Aufzählung von Dingen, Situationen, Objekten und Gedanken, Autoren und Texten, Songs und Bands, Firmen- und Dragqueennamen, notiert in Sudelheften und Bumsbüchern, in Schmier- und Notizheften – all dies bestimmt mittlerweile, im 21. Jahrhundert, den breiten Strom, der durch alle Netzwerke und Nachrichtenkanäle fließt.
Interessant ist da die Frage: Sind dadurch die Formen überholt, die diese Entwicklung allererst möglich machen? Wo ist im 21. Jahrhundert das Gedicht? Wo der Bewusstseinsstrom, die Inventarisierung und die Notiz?
Die negative Antwort wäre wohl: Sie gibt es nicht mehr. Ihre Konsistenz, wie Schulze es formuliert, ist nicht mehr gewährleistet. Wenn alles Text ist, ist jedes Wort, jeder Buchstabe Partikel und dadurch löst sich im Umkehrschluss jede übergeordnete Form auf. Das Gedicht – wie auch der Roman oder die Reportage – wären Geschichte.
Ubiquitäre Literatur: In den Köpfen, nicht in der Welt?
Aber sie werden ja immer noch geschrieben. Eine alternative, positive Antwort wäre: Das Gedicht, der Roman, die Reportage und alle anderen Formen von Literatur wandeln sich zu Bewusstseinsformen. Alles in der Welt ist Text, wir lesen immerzu – und als Lesende kreieren wir deshalb immerzu. Nichts Festes natürlich, eher herumwandernde Ideen, Fragmente einer Lebensgeschichte etwa – aber umso poetischer wird das Bewusstsein, das sie hervorbringt. Das einzelne wie das kollektive.
Anders gesagt: Wenn die Form nicht mehr in die Welt getragen werden kann, rettet sie sich eben in den Einzelnen hinein. Vielleicht ist auch das ubiquitäre Literatur: Der Mensch wird nicht nur überall literater Leser, sondern selbst literarisch. Auch das könnte das von Schulze skizzierte Ambient Writing befeuern: ein „Bedürfnisse artikulierendes Mitschreiben an der Umgebung“ – ein literarischer Mensch schreibt den anderen, der selbst wiederum Schreibender ist. Alle lesen und werden gelesen: „purer Genuss […] für Lektomaniker wie uns“. Und pures Glück für alle literarischen Formen obendrein, die so ubiquitär werden wie vielgestaltig.
Zitate © Matthes & Seitz