Octavio Paz: Das fünfarmige Delta
„Das fünfarmige Delta“ – unter diesem Titel hat Octavio Paz die fünf Langgedichte zusammengefasst, die er in seinem Leben geschrieben hat. Sie hat der Suhrkamp Verlag jetzt in einer fragwürdigen Neuausgabe zusammengefasst.
Die prägendste Eigenschaft des Langgedichts ist wohl die, dass nicht genau klar ist, was man mit ihm anfangen soll. Es ist kein Roman, aber erzählt Geschichten; es ist keine „typische“ Lyrik, wie sie Lieder und eingängige Reime vermitteln, aber es hat Verse.
Octavio Paz schien die Antwort auf dieses formale Rätsel trotzdem leicht gefallen zu sein, als er 1994 zu Beginn seines Vorwort zur Ausgabe seiner fünf langen Versstücke schrieb: „[D]as moderne Langgedicht ist ein Ganzes.“ 1S. 8 Aber so leicht war es dann doch nicht. Denn er widerspricht sich etwas später selbst: „In den langen Gedichten kann die Zeit fließen, sichtbar werden, während sie in den kurzen aufgehoben wird.“ 2S. 10 Also doch kein Ganzes?
Wer über das Konzept der Zeit nachdenkt, merkt schnell, wieso diese Aussage das Gegenteil der Idee eines Ganzen beschreibt: Das Langgedicht betont, wenn es als Zeitfluss verstanden wird, viel eher die Flüchtigkeit von Zeit und Erfahrungen als ihr Ganzes.3Was ja auch nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit wäre.
Fünf Gedichte aus 44 Jahren
Der zweiten Ansicht einer fließenden Form entsprechen die Langgedichte von Paz viel mehr als der eines Ganzen. Paz schrieb und veröffentlichte sie zwischen 1940 und 1984. Sonnenstein dreht sich um den Wandel des Lebens im Gegensatz zur Starrheit des Todes. Weiß verhandelt auf anregende Weise die Differenzform der Sprache, das Reden zwischen dem Schweigen. Weiter geht es im Nachtstück in San Ildefonso mit dem Nicht-Dunklen der Nacht, das die Vorstellungen ausleuchten, und Noch einmal durchwacht wie auch Charta des Glaubens sind von Themen der Identität und Fremdheit beherrscht.
Die Titelmetapher des „fünfarmigen Deltas“, die auch grafisch die Sammlung mit durch Kontrast markierten Zwischenbildern strukturiert, ist ebenfalls eine der Differenz. Auch sie ist geprägt von einer Mischung aus Ganzheit und Vielfalt. Ein Ursprung weist auf dem Cover fünf (lyrische) Stränge auf. (s.o.) Wenn überhaupt könnte es auch bei diesem Bild höchstens um ein flüchtiges Ganzes gehen: die immer nur zwischenzeitige Einheit des Wassers im Delta, bevor es sich verläuft.
Kein Ganzes im Text – und nur ein halbes Buch
So widersprechen sich also die Einleitung des Dichters und die Form seiner Texte, die in sich selbst eigentlich sehr oft meisterlich Neues und Altes verweben. Es gibt aber auch noch etwas anderes, das sich im Falle dieses Buches widerspricht: die Textgestalt und die Materialität, die Suhrkamp ihr als Buch zugesprochen hat.
„Das fünfarmige Delta“ ist, ohne dass Suhrkamp das ausweist, ein Print-On-Demand-Titel. Einer, der ein Cover in einer Auflösung hat, die nach einem Schulprojekt mit einer Gratis-Version von InDesign aussieht und nicht wie die Arbeit eines Buchgestalters. Ein Buch, das überdies noch nach Chemie stinkt und nicht nach einer zweisprachigen Lyrikedition mit Texten, die sich rezeptiv mit der ganzen Weltliteratur auseinandersetzen. Eines, das sage und schreibe trotzdem 18 Euro kostet – und deshalb auch wohl von niemandem gekauft werden wird, der Lyrik schätzt. Das gilt auch für den Rest des noch erhältlichen Werks von Paz bei Suhrkamp.
Antiquarische Einkäufe sind hier leider die besseren. Die Texte selbst sind toll.