Hans Leybold: „Der Geliebten“ (Gedichtinterpretation)
Hans Leybold, heute vor 128 Jahren geboren, hat mit seinem Gedicht „Der Geliebten“ eine moderne, satirische Version der mittelalterlichen Tagelieder geschrieben.
Seinem ungewöhnlichen Text voller Widersprüche, Witz und Einfallsreichtum gilt die heutige Poesi-Gedichtinterpretation.
Kurze Auslegungen von Gedichten der deutschen und englischen Literaturgeschichte erscheinen regelmäßig auf diesem Blog. Sie und weitere Interpretationen werden auch bald als Lektürehilfen für Schüler, Studierende und andere Interessierte in der App verfügbar sein.
Hans Leybold: Der Geliebten
Der Blas- und Eu-Phemieen reiche Kette
Hab’ ich geschlungen dir, Geliebte, um das Bein.
Und wenn ich sonst nichts von Belang mehr täte,
So könntest du mir Kakadu und Sperber sein.
Erinnre dich der Nacht in jenem Bette,
Als eine Spinne alle weißen Perlen fraß,
Als über dich gebeugt die Freundin Juliette
Zu Häupten dir und mir zu Füßen saß.
Empörte Fistelstimmen stelzten aus der Mette.
Tuberkulinsaft blumte groß auf Tisch und Wänden.
Der Mond hing sich ans Morgenrot in Glatzenglätte
Und malte grüne Riegel deinen Händen.
Dann kam der Sommer und ein groß Gefrette.
Auch Kraniche geruhn, sich hoch zu schneuzen.
Und wenn ich dies nicht zu bemerken hätte,
So hätte jenes nichts zu benedeuzen.
Nur sollt ich nicht gehabt die Telegraphendrätte
Zu sehr bewegt nach dir, als schließlich du entschwandest.
Denn dieses tatst du in der Magensätte
Des ersten Tags mit dem, den du nicht kanntest.
Gedichtinterpretation
Minnesänger des Mittelalter schrieben oft kurze Gedichte, sogenannte „Tagelieder“, über den Abschied eines Liebespaar am Morgen nach einer intimen Nacht zu zweit.1Zu nennen ist exemplarisch Wolframs von Eschenbach Den morgenblic… Der Erinnerung an eine derartige Nacht gilt auch Hans Leybolds Gedicht, eine „in jenem Bette, / Als eine Spinne alle weißen Perlen fraß“.
Das skurrile Bild der perlenfressenden Spinne ist hier natürlich eines von vielen, die Leybolds Lyrik zugleicht radikal von der des Mittelalters und ihren Themen wie der Schönheit der Frau oder des Werbens um ihre Gunst absetzt. „Der Geliebten“ ist voll von ungewöhnlichen, nicht vollständig aufgehenden Motiven, wie etwa den vielen Vögeln (Kakadu, Sperber, Kranich), dem Mond, der „grüne Riegel“ malt oder die Kette des anhänglichen Liebhabers, die metaphorisch aus „Blas- und Eu-Phemieen“ gemacht ist.
Neologistischer Humor
Zudem unterläuft Leybold den klagenden Ton eines Tagelieds, der generell vom Abschiedsschmerz der Liebenden bestimmt ist, mit satirischen Elementen. Dazu tragen vor allem seine skurrilen Wortneuschöpfungen (Neologismen) und umgangssprachliche Wörter bei – „Gefrette“, „benedeuzen“. Weil diese offensichtlich vor allem dem Reim zuliebe verwendet werden, gewinnt die ganze Form einen künstlich-gewollten Charakter, der die Tradition ein wenig lächerlich macht.
Intensive Erinnerung
Durch all diese Techniken gewinnt die Liebesnacht, an die sich der Sprecher erinnert, ihre ganz eigene Gestalt. Sie ist zugleich konkret und ungreifbar – es ist nämlich auch bis zum Ende nicht ganz klar, ob eine wirkliche Person gemeint ist oder ein abstraktes Wunschbild. Diese Eigenschaften des Gedichts machen es zu einem enorm modernen, fast surrealistisch-experimentellen, denn statt der Liebe oder der Geliebten ist die Sprache der Star. Der Ideenreichtum der einzelnen Verse ist es, der im ganzen Gedicht „aufblumt“ (um Leybold selbst zu zitieren), zur Blüte kommt. Das Programm des Textes ist eindeutig: Bilder zu erschaffen, die es in der echten Welt nicht geben kann – höchstens in Träumen, die am Tag, den das Ende des Gedichts wehmütig ankündet, verblassen.
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