Das digitale Buch und sein Leben in der Grauzone
Analog first. Für den Freitag rezensiert Erika Thomalla das neu erschienene Buch „Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung“ von Heiko Christians.
Haupterkenntnis ihrer Lektüre des in Köln bei Böhlau erschienenen Buchs: Die Bildungsidee repräsentiert für Christians seit Goethes Bildungsroman die Kulturtechnik des Lesens – des analogen Lesens:
Bildendes Lesen zielte darauf, „kurzzeitige Aufmerksamkeit und Wahrnehmung in längerfristiges Verstehen“ zu verwandeln. Es setzte voraus, dass man eine Auswahl traf, deren Kriterien reflektiert werden konnten.
Ganz anders im digitalen Zeitalter: Digitale Techniken versprechen einen umfassenden Zugriff auf alles verfügbare Wissen in kürzester Zeit. Selektion, Bewahrung und zeitintensive, wiederholte Lektüre sind dieser Logik fremd. Wo dennoch eine Auswahl stattfindet, wird sie an Algorithmen oder Dienstleister abgegeben, die – wie die App Blinkist, die Sachbücher so zusammenfasst, dass man ihre Hauptgedanken in unter einer halben Stunde nachvollziehen kann – Bildung in schnell verdauliche Portionen zuschneiden.
Der Trend von der Haptik zur Flüchtigkeit ist vom Autor als auch seiner Rezension richtig erkannt. Aber die Geschichte der Digitalisierung derart zu kontrastieren, vergisst die Zwischenräume. Das digitale Buch, das im Umfassenden das Besondere, Haltbare repräsentiert, führt ein Leben im Graubereich.
Anders gesagt: Vielleicht ist nicht bloß die Wandlung der Kulturtechnik des Lesens ein zu hinterfragendes Problem, sondern auch die der Begriffe. Selektion nehmen App-Nutzer etwa zuweilen schon bewusst bei der Entscheidung für den einen und gegen den anderen digitalen Bildungsinhalt vor. So ist dieser Teil der Bildungstechnik lesen zum Teil nicht verschwunden, sondern womöglich schlicht auf eine andere Ebene verlagert word.
Und auch das digitale Buch im Internet kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Es ist dort zwar nicht analog, aber dennoch vielfältig – einmal mal bei Digitalverlagen wie mikrotext oder Frohmann nachfragen reicht, um eine gewisse Kurzsichtigkeit Christians’ anmerken zu können.1Oder bei uns.