Epoche im Fokus: Nachkriegslyrik (ca. 1945–1960)
Auf dem Poesi-Blog wird jeden Monat eine bestimmte Epoche oder Stilrichtung der deutschen Literatur vorgestellt. Dieses Mal thematisieren wir eine der wohl prägendsten: die Nachkriegslyrik.
Die Nachkriegslyrik auf einen Blick:
Was die deutsche Nachkriegslyrik ausmacht:
- Den 2. Weltkrieg verarbeiten und aufarbeiten
- Gefühlswelt und Schicksale der Menschen nach dem Krieg
- Schuldfrage
- Neuanfang in der Literatur, Befreiung von nationalsozialistischer Vergangenheit
Gattungen: Gedichte, Romane, Drama, Kurzgeschichten
Themen: Krieg, Holocaust, Schuld, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit
Vertreter und ihre Gedichte:
- Günter Eich: „Inventur“, „Latrine“
- Paul Celan: „Todesfuge“
- Ilse Aichinger: „Heu“, „Abgezählt“, „Marianne“
- Wilhelm Lehmann: „Atemholen“
- Ror Wolf: „mein famili“
Zeitlich ist die Epoche der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur schwierig abzugrenzen. Während viele dafür plädieren, sie von 1945 bis ca. 1960, höchstens 1970 zu datieren, wurde auch nach 1970 Lyrik unter dem Eindruck des zweiten Weltkriegs geschrieben.
Sinn macht es daher umso mehr, einzelne Phasen der Nachkriegslyrik zu unterschieden. Die Anfangszeit ist heute unter der Bezeichnung „Trümmerliteratur“ bekannt. Sie war insbesondere Kriegs- und Heimkehrerliteratur. Die metaphorischen Trümmer fanden sich sowohl auf den Straßen der zerbombten Städte als auch in den Köpfen der Menschen, die durch prägende Schicksale und Zerstörung ‚zertrümmert‘ wurden.
Während eine Vielzahl an Autoren noch immer im Exil lebte – die ersten kehrten Anfang der 1950er Jahre zurück – begannen direkt nach Kriegsende 1945 die ersten Versuche der literarischen Kriegsaufarbeitung und -bewältigung. Aus erster Hand wurde den Lesern unmittelbar Einblick in das Erlebte von Soldaten und anderen Heimkehrern gewährt. Was dabei offenbart wurde, war oftmals hochgradig traumatisch. Nicht nur der Umgang mit schrecklichen Erfahrungen, auch der Verlust von elementaren Werten durch solche Schilderungen beeinflusste die Wirkung der Nachkriegslyrik.
Parallel zum Begriff der Trümmerliteratur findet sich in der Beschreibung der Nachkriegslyrik häufig auch der der Kahlschlagliteratur. Grund: Vor allem den ‚kleinen Leuten‘ riss der Krieg den Boden unter den Füßen weg, ihre soziale und wirtschaftliche Existenz erfuhr einen Kahlschlag.
Neben den DichterInnen der Trümmerliteratur gab es noch andere Gruppen von Schreibenden. So etwa Autoren der inneren Emigration, die nicht ins Exil gegangen waren; zu denen z. B. Erich Kästner zählte. Sie leisteten durch literarische Tätigkeiten in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand. Sie schrieben nach Kriegsende über ihre Erfahrungen in Deutschland.
Die zweite Phase der Nachkriegslyrik ist eng mit dem wichtigsten literarischen Organ der Nachkriegszeit verbunden: der Gruppe 47. Dieses Netzwerk talentierter Autoren, Schriftsteller und Verlage formierte sich 1947 in der Bundesrepublik und löste sich 1967 auf. Der regelmäßige Austausch und das Feedback untereinander verhalf zu großen Erfolgen der meisten Teilnehmer wie Ingeborg Bachmann oder Günter Grass,. Im Fokus stand auch hier die Frage nach einem möglichen Neuanfang in der Literatur – man befreite sich von der Ideologie, Sprache, der Kultur des Nationalsozialismus.
Anfang der 1950er Jahre, als der wirtschaftliche Aufschwung einsetzte, verlor die Nachkriegslyrik bereits an Zuspruch und Interesse in der Gesellschaft. Das Auflösen der Gruppe 47 infolge diverser Kritiken und einem sinkenden Einfluss bedeutete 1967 das endgültige (institutionelle) Ende der Nachkriegslyrik.
Die deutsche Literatur teilte sich in dieser Zeit, wie das Land, in zwei Hälften. In der sowjetischen Besatzungszone widmete man sich verstärkt dem politischen Thema des Antifaschismus. Der Westen Deutschlands begann sich parallel teilweise an literarischen Vorbildern aus Amerika zu orientieren.
Die Epoche in einem Zitat
Gibt denn keiner Antwort? Gibt keiner Antwort??? Gibt denn keiner, keiner Antwort???
Wolfgang Borchert
Gedichtbeispiel
Abgezählt (1978)
von Ilse Aichinger
Der Tag, an dem du
ohne Schuhe ins Eis kamst,
der Tag, an dem
die beiden Kälber
zum Schlachten getrieben wurden,
der Tag, an dem ich
mir das linke Auge durchschoß,
aber nicht mehr,
der Tag, an dem
in der Fleischerzeitung stand,
das Leben geht weiter,
der Tag, an dem es weiterging.
Ilse Aichinger, geboren 1921 in Wien, wurde durch das nationalsozialistische Regime verfolgt und war Mitglied der „Gruppe 47“. Sie war Hörspielautorin, Erzählerin und Lyrikerin. Ilse Aichinger starb 2016.
„Der Tag, an dem du / ohne Schuhe ins Eis kamst“ – dieser Tag in ihrem Gedicht „Abgezählt“ kann als eine Metapher verstanden werden. Diese Metapher macht das Gedicht trotz seines verspäteten Entstehungsdatums zu einem der Nachkriegslyrik. Denn der Tag ist der eines plötzlichen Erwachsenwerdens, das durch Krieg und Verzweiflung geprägt ist.
Der oder die Angesprochene wird durch fehlende Schuhe als unvorbereitet dargestellt, hat womöglich Zweifel, Ängste. Ein Versuch von Alltagsleben wird durch die Schlachtung der Kälber verdeutlicht. Aber auch in dieser Gewalttat liegt etwas Untergründiges, Gefährliches.
Das bestätigt das entscheidende Ereignis des Gedichts, welches das folgende ist: dass „ich mir das linke Auge durchschoß“. Dies könnte als gescheiterter Suizid-Versuch des Sprechers gewertet werden. Dieser wird direkt wie beiläufig abgetan („aber nicht mehr“)
Darüber hinaus schreibt eine Zeitung, dass das Leben weitergeht, ohne jedoch zu beachten, dass das bisherige Leben (der Krieg? der Selbstmordversuch?) bereits tiefe Spuren bei den Menschen hinterlassen haben. So wird das Leben wohl kaum normal weitergehen – vor allem nicht auf Knopfdruck.
Dies wird deutlicher, wenn man beachtet, dass der Tag, an dem die Zeitung berichtet, und der abschließende „Tag, an dem es weiterging“, zwei völlig verschiedene Tage sein können. Das Gedicht endet in einer Ambivalenz: Nur, weil die „Fleischerzeitung“ schreibt, dass das Leben weitergeht, heißt es nicht automatisch, dass das Leben der Menschen in der Realität Normalität erfährt. Auch diese Ambivalenz steht unter dem Eindruck des Selbstmordversuchs: die Fleischerzeitung, ein Organ des tierischen Todes durch Metzgerhand schreibt, dass das Leben weitergehe – und für den suizidalen Sprecher geht es auch weiter, nur eben nicht mit seiner Zustimmung.
„Abgezählt“ ist elementar Gewaltmetaphorik: Kälber werden getötet, Eis unter den Füßen ist gefährlich kalt, eine Verstümmelung durch eine Schusswaffe wird geschildert. Ilse Aichinger könnte mit diesen Bildern in ihrem Gedicht auf die Gewaltaten im 2. Weltkrieg, auf den Holocaust anspielen oder auf die Leiden traumatisierter Kriegsteilnehmer, die mit dem Erlebten nicht klarkommen. Es sind aber in jedem Fall klassische Fragen der Nachkriegslyrik, die gestellt werden: Wie soll man mit der Vergangenheit umgehen? Wie klärt man die Schuldfrage? Wie bewältige ich das Kriegstrauma?